bookmark_borderLinkschleuder: Gender, angebliche „Cancel Culture“, FDP

Wie üblich verzögert, dafür aber lang und kulturpessimistisch. Auch mal schön.


Den unerfreulichen Teil vorab: Der „gecancelte“ „wissenschaftliche“ Vortrag über Gender bzw. die Frage, ob es ausschließlich zwei Geschlechter gibt oder nicht, an der HU Berlin. Haben vermutlich alle mitbekommen, aber ein paar bemerkenswerte Links will ich trotzdem nochmal zusammenstellen, vor allem zu den Entwicklungen nach der Absage:

  • „So stellt sich tatsächlich heraus, dass wenn man eine Vielzahl divergenter Phänomene in zwei Kategorien einteilt am Ende eine Aufteilung mit zwei Kategorien herauskommt“ (Arthur Harris, Facebook, via Claas Gefroi auf Twitter)
  • Der Linguist Anatol Stefanowitsch fragt sich, wie ein Vortrag einer Doktorandin, „die keine Publikationen zu diesem Thema hat und die in einer Arbeitsgruppe zu Verhaltenspsychologie arbeitet, in der auch sonst niemand zu diesem Thema publiziert hat.“ in die Lange Nacht der Wissenschaften kommen konnte: „Dafür war die LNDW von vornherein nicht der richtige Ort und der richtige Kontext, und eine Doktorandin, die weder zur Biologie von Geschlecht noch zur Soziologie von Geschlechterrollen noch zur Psychologie von Geschlechtsidentität forscht, ist nicht die richtige Referentin.“ (Twitter-Thread)
  • Einige haben sich den Vortrag angesehen und kritisch bewertet, exemplarisch @ReinholdTuexen (Twitter-Thread) und @AdinChelloveck (Twitter-Thread)

Unglücklicherweise ist die Uni nach der Absage dann tatsächlich eingeknickt, nur nicht vor einem „woken Mob“, sondern vor einem konservativen. Wenig überraschend hat sich dann herausgestellt, dass die Dozentin keineswegs politisch neutral und für Diskussionen offen ist, wie man gutgläubig annehmen könnte:

  • Robert Wagner: „Es wird Zeit, dass das Augenmerk auf die fragwürdigen Aktivitäten von Marie-Luise #Vollbrecht gelegt wird. Ihre Tweets sind auffallend gehässig und vulgär, teils auch menschenfeindlich. Tatsächlich erinnern sie sogar an rechte Trolle.“ (Twitter-Thread)
  • Sie zieht Vergleiche zwischen aktuellen Debatten und der „Zeit der Lobotomie“, was wohl die NS-Zeit meinen dürfte (via Robert Wagner, Twitter)
  • Die an den (nachgeholten) Vortrag angeschlossene Diskussion hat sie nicht besucht, weil sie der Meinung ist, der Vortrag sei korrekt gewesen und müsste nicht kontextualisiert werden – sie entzieht sich an dieser Stelle also der Debatte. (via @ElfieTalime, Twitter)
  • Wenn das kritisiert wird, wird „eine rote Linie überschritten“ und angedeutet, damit könne oder solle der Wechsel der Kritiker*in nach Berlin verhindert werden (via Dana Mahr, Twitter)
  • Bodie A. Ashton liefert einen breiteren Blick aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive auf die Äußerungen Vollbrechts zur Geschichte: „International colleagues, I want you to see exactly what is happening over here—an anatomy of atrocity denial as part of a broader campaign of bigotry.“ (Twitter-Thread)

Allgemein zum medialen und politischen Umgang mit der Debatte noch:

  • Dem nachgeholten Vortrag hat die Wissenschaftsministerin (kommt noch…) eine besondere Legitimität zukommen lassen, in dem sie selbst den (wissenschaftlich fragwürdigen) Vortrag besucht. (Tilmann Warnecke, Tagesspiegel)
  • Der mediale Umgang ist an vielen Stellen fragwürdig, so werden etwa rechte Framing eines aggresiven Mobs übernommen und gefestigt oder vorherige Äußerungen der Dozentin schlicht nicht betrachtet. (Lydia Meyer, Twitter-Thread) 1307
  • Bei der nachgeholten Veranstaltung passiert denn auch wenig überraschend nichts dramatisches, womit sich der Verdacht auftut, dass die HU letztlich einer PR-Aktion aufgesessen ist. (Louis Berger, Twitter-Thread) 1407
  • Die Forschungsministerin (ich komme an anderer Stelle auf sie zurück…) ist der Meinung, Transfeindlichkeit „müss[t]en wir alle aushalten,“ weil Wissenschaftsfreiheit und so. (Queer.de) (Hier scheint die Fehlannahme vorzuliegen, Wissenschaftsfreiheit hieße, jeden Scheiß behaupten zu dürfen, ohne dafür kritisiert zu werden. Die Debatte hatten wir bei der Meinungsfreiheit auch schon und auch da war das Unsinn.) 1407
  • „Dass eine Uni sich durch eine populistische Medienkampagne bereitwillig zur Bühne for transfeindliche Agitation im biologistischen Gewand anbietet, ist eben kein Teil von Wissenschaftsfreiheit, sondern eine Verkennung der eigenen Verantwortung.“ (@epicLouT, Twitter) 1507

Und die Folgen vom ganzen Desaster?

  • Wie ein abgesagter Vortrag transfeindliche Feminist*innen und Rechtsaußen zusammenbringt (Sascha Krahnke, Belltower News)
  • Biologin Vollbrecht vollzieht Täter-Opfer-Umkehr (Interview mit Dana Mahr, Katja Thorwarth, Frankfurter Rundschau)
  • Angst vor Meinungsfreiheit: „Nach der Absage eines umstrittenen Gendervortrags findet an der Berliner Humboldt-Universität eine Diskussionsrunde statt – leider zum falschen Thema.“ (Ralf Pauli, taz)

Kommen wir zur FDP. Ich habe diese Partei ein Weilchen mit den Ferengi verglichen, aber das tut den Ferengi Unrecht – die haben Rückgrat und ein Wertesystem, wenn das auch nicht meins ist. Beides bezweifle ich bei der FDP, diese Partei ist gefährlich und tendenziell gesellschaftsfeindlich.

  • Die Forschungsministerin ist starker Kritik aus der Wissenschaft ausgesetzt, so werden etwa Förderzusagen nicht eingehalten oder Förderprogramme kurzfristig eingestellt. Das trifft unter anderem Forschung zu den Auswirkungen von Corona auf die Gesellschaft oder Rechtsextremismus (Tagesspiegel I, Tagesspiegel II)
  • An der Stelle ein friendly reminder, dass Nobelpreisträger schon 2021 vor Christian Lindner als Finanzminister gewarnt haben (Reminder von @wenig_worte auf Twitter, Beitrag beim RND)

Jetzt sollen natürlich wichtige Projekte gefördert werden, nämlich Sachen, die kurzfristig Geld bringen oder was mit antiquierten Antriebstechniken aus dem letzten Jahrtausend zu tun haben.

Ein mit "FDP" bezeichnetes Auto biegt auf einer Autobahn an einer Gabelung zwischen "Forschungsstandort stärken" mit qualmenden Reifen Richtung "Hauptsache was mit Autos" ab
Twitter, Öffentlicher Dienst Memes

Zu anderen Dingen:

  • Warum die oft zitierten Zahlen von „millionenfachem [Kinder-]Missbrauch,“ die auch gerne als Argument für mehr Überwachung herangezogen werden, problematisch sind, erklärt Sebastian Meineck (Netzpolitik)
  • Annika Brockschmidt wirft Friedrich Merz vor, mit seinem Gejammer über Zensur und „Cancel Culture“ Gefahren von rechts zu verharmlosen und rechte Narrative zu bedienen. (Deutschlandfunk, Audio und Twitter-Thread)
  • Passend dazu erklärt Frank A. Stengel, warum das Konzept „Cancel Culture“ eigentlich ein „rechtsradikaler Scam“ ist. (Twitter-Thread)
  • Wer bei VW arbeitet, wird nicht in seinen Persönlichkeitsrechten beschränkt, wenn Audi seine Mitarbeiter*innen zwingt, zu gendern. Auch, wenn er in der Kommunikation mit Audi entsprechend angesprochen wird. Überraschung! (BR, Süddeutsche)
  • Als quasi erste Amtshandlung fordert die Gemeinsame Glücksspielaufsicht der Länder von Providern, Netzsperren einzurichten – auf Anforderung, ohne richterlichen Beschluss. Aus der losen Reihe „warum es eine Scheißidee ist, Netzsperren zuzulassen“. Interessanter Randaspekt: Die Behörde bezieht sich bei der Androhung von Zwangsgeldern auf den Glücksspielstaatsvertrag, der für Provider gar nicht direkt gilt. Glücklicherweise sind die Probvider bislang nicht der Meinung, tätig werden zu müssen, mitunter wird das Schreiben als Erpressung betitelt. Wird in der Verwaltungsgerichtsbarkeit sicher lustig, wenn die GGL versucht, das so durchzusetzen. (Netzpolitik)
  • Der Verfassungsschutz fordert derweil bei Auskünften über gespeicherte Daten von den Betroffenen die Zusage, nicht darüber zu sprechen. „Spannende“ Idee. (Golem)
  • Mit dem Personalausweis zum Onlineshopping: Wie selbstbestimmt sind “selbstbestimmte Identitäten”? (Lilith Wittmann, Medium)
  • Georg Fischer schlägt vor, statt „geistiges Eigentum“ den treffenderen Begriff „Immaterialgüterrecht“ zu verwenden (iRights)
  • Ulf Schönert stellt ein Projekt zur Analyse und hoffentlich Verbesserung amtlicher Sprache („Grundstücksver­kehrsgenehmigungs­zuständigkeitsüber­tragungsverordnung“) vor. (Zeit Online, „Offizieller“ Link hinter Paywall)
  • Bayerns Gesundheitsminister ist der Meinung, Datenschutz lähme Fortschritt, weshalb die digitale Patientenakte zum Opt-Out umgestellt werden müsste. Ist zwar datenschutzrechtlich überaus bedenklich, aber what could possibly go wrong? (heise) Die passenden „digitalen Identitäten“ (s.o.) sollen angeblich nächstes Jahr funktionieren (und hoffentlich sicher sein). (heise)
  • Die Open Knowledge Foundation hat ein neues Projekt gebaut, um Parlamentsdokumente bequem durchsuchen zu können, quasi ein inoffizieller Nachfolger von KleineAnfragen.de: Dokukratie (Frag den Staat, Netzpolitik) In Anbetracht des Trägers steht zu hoffen, dass dieses Projekt langlebiger sein wird.
  • Gleichzeitig ist Frag den Staat Mittelpunkt eines Gerichtsverfahrens, in dem das Verwaltungsgericht Berlin die gewagte Feststellung getroffen hat, presserechtliche Auskunftsansprüche wären nur legitim, wenn die Veröffentlichung auf Papier erfolgt. Ja, dieses Jahr. (Frag den Staat, Übermedien)
  • John Christensen hat ein Tool gebaut, das die Bilder des Weltraumteleskops Hubble mit denen des neuen James-Webb-Teleskops vergleicht. Die Unterschiede sind schon faszinierend.

bookmark_borderLinkschleuder: Technikpessimismus, Aktenknoten, Volkszählung

Technikpessimismus-Edition…


Das große Thema des vergangenen Monats, Chatkontrolle, klammere ich mal großräumig aus. Es ist hinlänglich bekannt, dass die Idee schlecht und potentiell verfassungswidrig ist, die öffentlich als Hauptgrund angeführten Pädophilen-Foren sowieso so nicht gefunden würden und im übrigen ein großer Teil „Beifang“ Jugendliche wären, die anderen Jugendlichen in gegenseitigem Einvernehmen Bilder oder Texte schicken. Hinweisen möchte ich nur auf einen Aspekt, der meiner Wahrnehmung nach untergegangen ist: Ein Teil der Forderung ist, dass Anbieter das Alter von ihren Nutzer*innen überprüfen sollen, was das Ende der Anonymität im Netz wäre. (Netzpolitik)


Die Frage, ob der Bund Objekte, Gebäude und anderes an die Preußen restituieren muss, wird vor Gericht geklärt werden. Jedenfalls haben Bund und Länder jetzt den Vorschlag derselben zu einer außergerichtlichen Einigung zurückgewiesen (FAZ).


Wenig beachtete Nebenwirkung der mittlerweile doch in Schwung gekommenen Umstellung auf E-Akte: Der Badische Aktenknoten (Wikipedia) stirbt aus. (LTO)

(Im Artikel wird auch beschrieben, wie Akten teils mit Entschuldigung von Auswärtigen an badische Gerichte zurückkommen, weil der Knoten nicht wieder geschlossen werden konnte. Erinnert mich an Archivknoten…)


Kurzbericht über einen Workshop zu Notfallverbünden. Speziell ausgerichtet auf Ostfriesland, aber ein kurzer Überblick mit praktischen Hilfen/Links. (Blog für ost-friesische Geschichte)

Passend dazu gibt es eine hübsche neue Karte der Notfallverbünde in Deutschland, die nicht nur die abgedeckten Gebiete, sondern auch die teilnehmenden Institutionen verortet. Sehr hübsch! (kek-spk.de)


Kurz gesammelt zur Geschichte von Volkszählung und Datenschutz:

  • Volkszählung und Zensus: Das große Misstrauen der 80er-Jahre (Deutschlandfunk)
  • Volkszählung und Zensus: Ein Fundament aus Daten zum Planen und Regieren (Deutschlandfunk)
  • Wie das Grundrecht auf Datenschutz entstand (tagesschau)

Im Bereich Gender bzw. Gleichberechtigung sind zwei Themenhefte erschienen: Frauen im Archiv (Archivar 2022,2: PDF) und „Archiv-, Bibliotheks- und Dokumentationspolitiken. Frauen*- und genderspezifische Zugänge“ (VÖB-Mitteilungen 75.2022,1)


Digitalisierung im allgemeinen und KI im besonderen in der Verwaltung:

  • In Berlin können Urkunden aus Standesamtsregistern online beantragt und bezahlt werden. War irgendwie kaputt, bezahlt wurde, danach ist der Vorgang aber versandet (Golem)
  • Die Berliner Polizei handelt „eklatant rechtswidrig“ und verweigert Akteneinsichten. Derweil hat die EU wegen mangelhaften Datenschutzes bei der Polizei ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. (Netzpolitik)
  • Niedersachsen will KI einsetzen, um Gewalt in Gefängnissen zu verhindern. Funktioniert natürlich auf Videoüberwachung und vollautomatischer Auswertung… (Golem)
  • …durch KI, die auch mal versehentlich normale Texte zu Pornotiteln übersetzt. (Heise)
  • Es gibt aber auch verhalten gute Nachrichten: Richter*innen halten den Einsatz von KI in der Justiz grundsätzlich für kritisch. Bleibt zu hoffen, dass die Politik das nicht ganz anders sieht und gegen Widerstände aus der Richter*innenschaft durchdrückt. (Heise, Golem)
  • Die öffentliche IT soll mittels Open Source unabhängiger von Monopolisten werden. (Heise)

Zum Ausweichen von Behörden von „klassischen“ Social Media-Kanälen in das Fediverse:

  • Mediatheken als Social-Media-Ausweichroute: Antworten auf häufige Fragen (Netzpolitik)
  • Stimmen aus dem Fediverse (Netzpolitik)

Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass bei der Anwendung von Uploadfiltern ein Gleichgewicht zwischen den Grundrechten und den Interessen von Urheber*innen sichergestellt werden muss, es müssen also Vorkehrungen getroffen werden, damit legale Inhalte nicht gesperrt werden. So weit, so nicht überraschend. (Maya El-Auwad, iRights)


Traue keinem Dienstleister, der eBooks mit DRM bereitstellt:

  • Onleihe: Technischer Fehler löscht alle Audio- und Videodateien (Heise)
  • Alte Kindle-Modelle verlieren Buchkauf und -ausleihe (Golem)

Zweites Dauerthema, Gesundheit:

  • Der Gesundheitsminister ist allen Bedenken zum Trotze der Meinung, die Einführung einer elektronischen Patientenakte für alle Versicherten sei eine gute Idee und Opt-In würde überbewertet. (Heise)
  • Bestandsaufnahme der Projekte und Herausforderungen Lauterbachs. (Netzpolitik)
  • Vergessene Gefahr: was passiert mit (geplanter?) Obsoleszenz von Implantaten etc. im Körper? Grade bei den modernen, digital steuerbaren Geräten wie bspw. Herzschrittmachern besteht hier ein echtes Risiko. (Heise)
  • DNA ist ein Sicherheitsrisiko (Zusammenfassung eines Interviews, Heise) (Ganzes Interview hinter Paywall)

Zum Abschluss zwei Kleinigkeiten:

  • Die Bild und der „Bläh-Bundestag“ – Ein Trauerspiel in einem Akt (Onkel Michaels Kleine Welt)
  • Duckduckgos datensicherer Webbrowser erlaubt indirektes Tracking von Microsoft (Heise)

bookmark_borderLinkschleuder: Alternative und öffentliche Soziale Netzwerke, Bestandserhaltung

Nochmal zum Vertrauen in die Cloud: „Atlassian und Hetzner zeigen, wie es nicht geht“ (Oliver Nickel, Golem)

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Zu alternativen Sozialen Netzwerken, insbesondere Mastodon:

  • Video zum Einstieg in Mastodon (etwa ab der Hälfte) (Jan-Keno Janssen, YouTube)
  • Warum Facebook- und Twitter-Alternativen anstrengend sind, aber dennoch gut tun (Eva Wolfangel, heise)

Und zu öffentlich-rechtlichen Netzwerkalternativen:

  • Ein öffentlich-rechtlicher RSS-Reader (Dirk von Gehlen)
  • Öffentlich-Rechtliche Netzwerkeffekte (Leonhard Dobusch, Dokublog)

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Der Streit darüber, was ob und wieweit kleinste Musikschnipsel urheberrechtlich geschützt sein können, geht wohl in die nächste Runde. Im Moment sieht’s so aus, als könnte die sog. Pastiche-Regelung endlich was bewirken, inwieweit es dabei bleibt, wird sich aber zeigen (Georg Fischer, iRights.info)

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Dr. Johanna Leissner hat auf dem Westfälischen Archivtag einen Vortrag gehalten über die Auswirkungen der Klimakatastrophe auf die Erhaltung kulturellen Erbes (Youtube). Ein Thema, das in den nächsten Jahren sicher noch wichtiger werden wird.

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Nur kurz erwähnen möchte ich:

  • Bestandserhaltungsboxen für die archivische Praxis und dazu gehörige Handreichung (mit PDF-Download, Augias)
  • Klimaziele allein durch Umstieg auf E-Autos nicht erreichbar (Andreas Donath, Golem)
  • Historisches Erbe und zeitgemäße Informationsinfrastrukturen: Bibliotheken am Anfang des 21. Jahrhunderts: Festschrift für Axel Halle (doi:10.17170/kobra-202010131934)

bookmark_borderLinkschleuder: Nachträge

Direkt ein paar Nachträge zu gestern, damit bin ich erstmal „auf Null“ und kann sauber anfangen:

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Klaus Graf hat auf Archivalia Tipps für schlechtes Bloggen zusammengestellt (Teil 1, Teil 2). Ich bin versucht, noch „Bilder sind umso unnötiger, desto mehr sie mit dem Beitrag zu tun haben“ zu ergänzen.

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Verwaltungsdigitalisierung, steter Quell des Mangels an Freude:

  • An dem von Dataport entwickelte Open Source-Desktop, der die Abhängigkeit von Micro$oft verringern soll, beteiligt sich jetzt auch Bayern. Damit sind jetzt alle Bundesländer beteiligt, fertig werden soll das Projekt Ende nächsten Jahres. Was allerdings noch unklar ist, ist die Finanzierung. (heise, Golem)
  • Das Innenministerium hat den „GovTech Campus“ gegründet. Lilith Wittmann kritisiert, dass das zu einer weiteren Externalisierung von Wissen führt, wie sie auch schon im Trend zur Beratung durch externe Dienstleister zu beobachten ist. (heise)

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Dass Elon Musk Twitter kauft, haben vermutlich mittlerweile alle mitbekommen. Leonhard Dobusch hat in zwei Twitter-Threads dargelegt, warum Soziale Netzwerke in öffentlicher bzw. öffentlich-rechtlicher Hand nicht unbedingt etwas schlechtes wären. (Thread 1, Thread 2).

Eine (Ganz-)Kurzeinführung in Mastodon, das sich als Ersatz durchsetzen dürfte, gibt es hier.

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Petra Gehring beschreibt im Jahrbuch Technikphilosophie, wie sie durch Retrokatalogisierung „als lesbische Redakteurin [ge]outed“ wurde. So verständlich ich finde, dass sie damit zumindest nicht glücklich ist, bin ich doch anders als sie der Meinung, dass jede*r, der oder die etwas veröffentlicht hat – zwar nur im Selbstverlag, aber doch immerhin mit ISSN und in Bibliotheken überliefert – damit rechnen sollte, dass diese Werke öffentlich rezipiert werden. Natürlich waren die heutigen Recherchemöglichkeiten in den 1990ern noch nicht absehbar, wenn damals mehr Wert auf Aufsatzerschließung gelegt worden wäre, wäre das Outing aber auch damals schon denkbar gewesen.

bookmark_borderLinkschleuder: Archivlinks, Cloud, Verkehrspolitik

Ich und meine Ankündigungen, mehr zu Bloggen *augenroll*. Mal gucken, ob sich eine Linkschleuder alle paar Wochen durchsetzt.

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Tipps zum dauerhaften Verlinken von Online-Ressourcen abseits von DOI etc. (Twitter, gesammelt bei Netbib). Ich benutze statt der vorgestellten Browser-Plugins Archiveror, das Seiten automatisch zu mehreren Archivdiensten gleichzeitig speichern kann

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Mal wieder hat ein Verwaltungsgericht sich daran gemacht, verfehlte Politik zu korrigieren, diesmal hat’s Bremen und auf Fußwegen aufgesetztes Parken erwischt (heise). Die Stadt Bremen geht wegen der grundsätzlichen Bedeutung in Berufung, ich hoffe aber mal, dass das übersteht. Andreas Wilkens kommentiert bei heise zutreffend:

Wenn der Bremer Senat gegen dieses Urteil Berufung einlegt, und das hat er, dann will er illegales Verhalten weiterhin tolerieren. Das ist für einen Innensenator, der für die Sicherheit der Gesellschaft zuständig ist, sehr bemerkenswert. Politiker in Innenressorts sind sonst meist harte Hunde, hier aber stellt einer das Wohl der Autofahrer über die Sicherheit der Gehwegnutzer, die beispielsweise an Engstellen auf die Fahrbahn ausweichen müssen.

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Das LG München hat ein etwas gewöhnungsbedürftiges Urteil zum Urheberrecht erlassen – Researchgate darf Artikel (einiger Verlage) nicht mehr zugänglich machen, die klagenden „Verlage hätten zudem hinreichend belegt, Inhaber der Rechte zu sein, um die Unterlassungsansprüche geltend zu machen“, während „laut Gericht (…) die Inhaberrechte hoch umstritten“ seien. (Forschung und Lehre)

Verlage tracken übrigens ihre Nutzer*innen nicht nur im Web, sondern auch anhand heruntergeladener Dateien, aber das nur am Rande. (Archivalia)

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Dass Cloud-Dienste für bestimmte Anwendungszwecke Vorteile haben, ist bekannt, dass sie auf der anderen Seite aber nicht unkritisch sind, ist auch nichts neues. So gab es jetzt etwa bei Atlassian Probleme beim weit verbreiteten Ticketsystem Jira und dem Wikisystem Confluence, der – bei einigen Nutzern – einige Wochen angehalten hat. (heise)

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Wo ich grade dabei bin, DRM ist nicht hilfreich. DYMO versieht jetzt Papierrollen für seine Etikettendrucker mit DRM-Chips, was nicht nur unnötigen Elektroschrott produziert (Golem), sondern auch neue Probleme. So musste etwa Canon vor einiger Zeit einen Workaround für seine eigenen Toner-Kartuschen veröffentlichen, weil im Rahmen des Chipmangels auch die Chips für’s DRM gefehlt haben. (auch Golem)

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Verwaltungsdigitalisierung, herrje. Steter Quell des Mangels an Freude. Bayern verweigert sich dem Nutzungskonto der Bundesverwaltung und baut lieber was eigenes. Behörden, die das Bundeskonto einsetzen wollen, müssen sich das erst genehmigen lassen. (heise) Ja, zentrale Profile sind mit Hinblick auf den Datenschutz nicht optimal, aber wenn jetzt jedes Land anfängt, ein eigenes Süppchen zu kochen, wird das nix mehr mit sinnvoller Digitalisierung.

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Überhaupt wird im Moment eine Menge Murks erfunden. Unnötig viele Kryptowährungen, NFT-Schrott, der neueste heiße Scheiß ist „Web3“, daass nicht nur den NFT-Kram auf alles aufpropft und damit wohl den Energieverbrauch in ganz neue Höhen treiben dürfte, sondern auch endgültig die anonyme Nutzung verhindert. (Netzpolitik.org, Malte Engeler)

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Zum Abschluss noch ein Kommentar über deutsche Prominente, die gegen das Gendern wettern. (Joachim Huber, Tagesspiegel)

bookmark_borderELTAB – Die Tauschbörse für Bibliotheken

Weil vermutlich viele kleinere Bibliotheken sehr davon profitieren könnten, ich aber das Gefühl habe, dass viele die Plattform nicht kennen, wollte ich mal auf die Tauschbörse ELTAB hinweisen.

ELTAB (Elektronische Tauschbörse für Bibliotheken) ist eine bei der UB Karlsruhe gehostete Plattform zum Tausch von nicht mehr benötigten Medien zwischen Bibliotheken. Teilnehmen können alle Bibliotheken mit ISIL, aber auch Bibliotheken ohne können sich registrieren und werden freigeschaltet. Nicht öffentlich zugängliche Bibliotheken können Medien nur anbieten, öffentliche auch bestellen. Die meisten teilnehmenden Bibliotheken liegen in Deutschland, einige gibt es aber auch im gesamten deutschen Sprachraum und auch einige wenige in anderen Ländern. Der überwiegende Teil der teilnehmenden Bibliotheken sind Behörden-/Spezialbibliotheken, Landesbibliotheken und Wissenschaftliche Bibliotheken.

Die Arbeit mit ELTAB

Sobald das Konto freigeschaltet ist, können weitere Zugänge für Mitarbeiter*innen angelegt, Dubletten eingestellt und bestellt werden. Vorab: Es gibt keine Pflicht, dass jede bestellende BIbliothek auch ihre Dubletten einstellt – schön ist es aber natürlich.

Grundsätzlich ist eine Erhebung von Kosten nicht vorgesehen, bei größeren Mengen und Formaten behalten sich aber viele Bibliotheken vor, um eine Erstattung der Versandkosten zu bitten. Bei der Bestellung von Medien lässt sich auch eine Checkbox anhaken, die die gebende Bibliothek darauf hinweist, bei der Erhebung von Versandkosten vorher Rücksprache zu halten.

Meine Erfahrung ist, dass nur selten Versandkosten erhoben werden, ich selbst habe bislang nur bei wenigen Sendungen ins Ausland oder großen Mengen von Medien (> 10 Bände) um eine Ersattung gebeten. Selbst das sollte aber in der Regel kein Problem sein – in ein Paket für 15 Euro passen deutlich mehr Bücher, als es im Buchhandel für 15 Euro gibt 😉

Die Bestände sind natürlich sehr unterschiedlich: Es gibt AV-Medien, Dissertationen, Monografien und Zeitschriften, dabei ist alles dabei von ausgesonderten Bibliotheksexemplaren über nicht benötigte Geschenke und von Zeit zu Zeit sogar frisch erschienene Verlagsexemplare. Aus dem Kreis der teilnehmenden Bibliotheken ergibt sich, dass das Angebot eher für Bibliotheken mit Sammlungsauftrag interessant ist als für Öffentliche Bibliotheken mit Anspruch auf aktuelle Werke – Romane etc. sind eher selten.

Beim Einstellen können sowohl alle Felder von Hand befüllt werden, es gibt aber auch Schnittstellen zu verschiedenen Katalogen, sodass nach der Eingabe bspw. des Titels oft viele Daten bspw. aus dem KXP übernommen werden können.

Durchsucht werden können die Bestände online, es ist aber auch möglich, für einzelne Bibliotheken Verzeichnisse in den Formaten CSV, JSON oder PDF zu erstellen.

Neue Medien im Blick behalten

Hier möchte ich noch eine Möglichkeit vorstellen, Literatur zu bestimmten Themen bzw. Begriffen im Blick zu behalten.

Unter Suchen (mit einem oder mehreren Ergebnissen) wird ein RSS-Feed angeboten, mit dem alle in Zukunft eingestellten Medien zu diesen Stichwörtern bspw. in Outlook oder einem RSS-Reader angezeigt werden können.

Die URLs sind nach diesem Schema aufgebaut:

  • Alle Felder durchsuchen: eltab.ub.uni-kl.de/de.rss?any=SUCHBEGRIFF
  • Titel durchsuchen: eltab.ub.uni-kl.de/de.rss?title=SUCHBEGRIFF&author=&isbnorissn=&series=&publisher=&dissertationnote=&datefrom=&dateuntil=&publicationplace=&createdfrom=&createduntil=&order_number=

Für Outlook und ggf. andere RSS-Reader muss noch das Protokoll (https://) ergänzt werden.

Eine kleine Warnung sei an dieser Stelle aber ausgesprochen: „Nieders“ entspricht der Katalog-Suche nach Nieders*, durchsucht aber alle Felder – auch die abgebende Institution. Es kann also durchaus vorkommen, dass ein Werk außer der abgebenden Institution („Niedersächsisches Landesarchiv“) keinen Bezug zu Niedersachsen hat. Mit den Feeds lässt sich das Aufkommen aber schon sehr gut vorfiltern. Während in der letzten Woche über 1.000 Medien eingestellt wurden, haben meine (ca. 10) Feeds nur rund 20 Medien ausgegeben.

Lohnt sich das?

Grade für kleinere Bibliotheken mit geringem Budget lohnt sich die Teilnahme an ELTAB meiner Ansicht nach unbedingt, um die eigenen Bestände zu erweitern. Gleichzeitig ist die Teilnahme natürlich eine tolle Möglichkeit, die eigenen nicht (mehr) benötigten Medien einem guten Zweck zuzuführen, ohne sich dem Aufwand eines Bücherflohmarktes auszusetzen. Beachtet werden sollte allerdings, dass ein eingestelltes Medium nicht unbedingt zeitnah bestellt wird, unter Umständen auch nie. Meine Beobachtung ist, dass viele Bibliotheken die Neuzugänge wohl über RSS auswerten – jedenfalls werden die von mir eingestellten Dubletten auffällig häufig wenige Stunden oder Tage nach dem Einstellen bestellt.

Was leider noch nicht funktioniert, ist ein Import ganzer Listen im XLSX- oder CSV-Format – aber ich gebe die Hoffnung nicht auf 😉

bookmark_borderNoch mehr zu gendergerechter Sprache

bookmark_borderAbout archives

Kleine Auf- und teilweise Richtigstellung einiger populärer, vor allem bei Schriftsteller*innen verbreiteter Mythen über Archive.

Widersprechen würde ich nur beim Abschnitt „Sorting systems“, aber da passt eigentlich auch nur die Überschrift nicht. (Betrifft eher Signaturen, nicht Pertinenz- und Provenienzprinzip)

bookmark_borderBibliothekstag*e

Auf Openpetition läuft derzeit die Petition Zeitgemäßer Name für den „Bibliothekar“tag. Auf das Thema muss ich, denke ich, nicht weiter eingehen. („Bibliothekartag“ war auch schon seltsam, bevor gendergerechte Sprache konservative Mitbürger*innen in den Genderwahn getrieben hat, der Frauenanteil in der „Branche“ ist doch nicht zu vernachlässigen…)

Auch auf die Diskussion auf InetBib will ich nicht näher eingehen – da war alles dabei, von totaler Zustimmung bis totaler Ablehnung, ist nur leider irgendwann in’s Absurde abgeglitten. Inklusive der strikten Ablehnung der Sternchen-Lösung, die so niemand vorgeschlagen hatte. (Aber was weiß ich schon, ich hab‘ Latein nur in der Schule gehabt.)

Wenn doch Interesse besteht, das Listenarchiv ist offen, viel Spaß. (Sind aber auch einige interessante Sachen drin, geschichtliche Aufarbeitung der Geschichte des Kongresses und Beispiele für andere, von der Gesellschaft unbemerkte Umbenennungen zum Beispiel. Ein Worst/Best-of der Diskussion gibt’s auf Twitter.)

In dem Sinne, drei kleine Links:

  • Armin Wolf: Ist Gendern der „Tod der Sprache“? (Spoiler: Nein)
    • Jede Variante, die ich oben beschrieben habe, ist besser als das ignorante generische Maskulinum.
  • Mela Eckenfels: Quellen zu nicht-diskriminierender Sprache
    • Eine Linksammlung zu Quellen, die helfen, auf diskriminierende Formulierungen zu verzichten, bzw. dafür zu sensibilisieren.
    • Interessant, weil nicht nur Tipps zu gendergerechter Sprache, sondern auch zur Vermeidung u.a. rassistischer und ableistischer Formulierungen
  • Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA): GRA-Glossar
    • Journalisten, Lehrkräfte, Schüler, Studierende, Politiker und historisch Interessierte können mittels des GRA-Glossars Herkunft, aktuelle Bedeutung und Konnotationen von belasteten oder vermeintlich belasteten Wörtern schnell und einfach abfragen.

bookmark_borderTagungsband zum Deutschen Archivtag 2019

Nach meinem Urlaub konnte ich gestern den Tagungsband zum 89. Deutschen Archivtag („RECHTsicher – Archive und ihr rechtlicher Rahmen“) aus der Post holen. (KXP, demnächst garantiert mit Inhaltsverzeichnis und/oder Aufsätzen)

Auch, wenn sicher viele Aufsätze relevant sind (Recht auf Vergessen, DSGVO), ist der Band ziemlich theoretisch – deshalb möchte ich die vier Beiträge hervorheben, die ich besonders interessant finde. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, auch wenn ich über die Abstracts hinaus gehe, genauere Seitenzahlen sind demnach selbst herauszufinden 😉

Felicitas Söhner: „Forschungsethische Anforderungen und Standards bei der Archivierung von Zeitzeugendokumenten“ (S. 137-152)

Während viele Archive Zeitzeugeninterviews in ihren Beständen haben, werden sie doch in (gefühlt?) verhältnismäßig wenigen aktiv gesammelt oder gar erstellt. Söhner stellt als zentale Punkte heraus:

  • Informiertes Einverständnis, Freiwlligkeit: Gesprächspartner*innen müssen von Anfang an über den Forschungszweck und die Verarbeitung ihrer Interviews informiert und damit einverstanden sein. Sie müssen jederzeit die Möglichkeit haben, ihr Einverständnis zurückzuziehen – die entstandenen Daten müssen dann vernichtet werden. Dabei weist Söhner auch darauf hin, dass das informierte Einverständnis auf Probleme stoßen kann, wenn die Gesprächspartner*innen die Bedingungen nicht verstehen. Ähnliche Probleme sehe ich bei Menschen, die bspw. eine Demez entwickeln, die aber möglicherweise noch genaue Erinnerungen an bestimmte Ereignisse wiedergeben können.
  • Schadensvermeidung: Die Forschenden müssen dafür Sorge tragen, dass ihren Gesprächspartner*innen möglichst keine Schäden entstehen und von Vornherein über mögliche Schäden informieren. Insbesondere werden emotional belastende Forschungssituationen sowie Exkursionen genannt – hier ließe sich überlegen, ob bestimmte Fragen oder Themenkomplexe ausgenommen werden sollten, um Trigger zu vermeiden, die Traumata (wieder) auslösen können.
  • Sicherung von Anonymität und Vertraulichkeit: Die Vertraulichkeit der Daten sollte eine Selbstverständlichkeit sein, die Vermeidung oder zumindest Minimierung personenbezogener Informationen hingegen kann unter Umständen problematisch oder unmöglich sein. Eine vollständige Anonymisierung mag bei beispielhaften Erzählungen (z.B. Einwanderungserfahrungen) möglich sein. Ist das Ziel aber, eine bestimmte Lebensgeschichte zu erzählen, wird dies schwierig. Hier muss eine Abwägung zwischen zukünftigen Forschungsinteressen und den Interessen Drittern getroffen werden. (Passt zum Beitrag von Axel Metz, s.u.)

Für die Archive ergeben sich demnach als zentrale Aufgabenfelder:

  • Anonymisierung der Daten (soweit möglich und sinnvoll)
  • Überlassung der Rechte
  • Aufbereitung der Daten (Speicherung, Erfassung, Transkription, …)
  • Nutzung

Axel Metz: „Die Rechte der Nachkommen – oder: Schutz jenseits der Schutzfristen und die Konsequenzen für die Benutzung von Archivalien“ (S. 157-166)

Wie ist mit Archivalien umzugehen, deren Nutzung nicht die „klassischen“ Ausschlussgründe (Personenbezogene Daten, Erhaltungszustand und „Wohl des Staates“) entgegenstehen, nämlich schutzwürdige Belange Dritter? Diese Frage ist um so wichtiger, als dass mit neuen technischen Möglichkeiten Daten immer besser verknüpft und Erkenntnisse aus den verknüpften Daten gezogen werden können.

In seinem Beitrag macht Metz klar, dass der klassische Fall – von der Akte eigentlich nicht betroffene Personen, die aber identifizierbar sind (z.B. Kinder in einer Personalakte) seiner Ansicht zu eng gefasst ist. So wirft er etwa die Frage auf, ob die Information über eine vererbbare Krankheit nicht auch eine schutzwürdige Information ist, auch, wenn keine Kinder bekannt sind. Bei der Abwägung des Nutzungsinteresses und dem Schutz der Informationen sollte etwa auch berücksichtigt werden, ob die aus der Akte gewonnene Information publiziert und damit einem breiteren Publikum bekannt gemacht werden soll.

Als Beispiele nennt er den Prozess zur Veröffentlichung der Liste der Euthanasie-Opfer heran, (Bei Archivalia verlinkt und kommentiert) und die Einschätzung des Bayerischen Datenschutzbeauftragten zur Digitalisierung von Personenstandsregistern (Archivalia). Ob die von diesem geforderte Schutzfrist von 140 Jahren für Abstammungsinformationen wünschenswert wäre, sei dahingestellt – bislang scheint es sich hier eher um eine Einzelmeinung zu handeln.

Juliane Henzler, Christian Schlöder: „Der Umgang mit Deposita im Niedersächsischen Landesarchiv – Von den Möglichkeiten eines modularen Musterdepositalvertrages“ (S. 193-205)

Im Bereich der nichtstaatlcihen Bestände gibt es vermutlich in vielen Archiven solche mit ungeklärten Eigentumsverhältnissen – seien es ungefragt zugesendete Dokumente oder ganze Bestände, bei denen eine rechtzeitige Klärung versäumt wurde. Ich wage zu Behaupten, dass die meisten Archive solche „Leichen im Keller“ haben – teils wurden mündliche Absprachen nicht dokumentiert, teils sind Rechtsnachfolgen unklar, manche Familien „ausgestorben“, für einige Bestände gab es nie eine Übergabedokumentation, geschweige denn einen Depositalvertrag.

Die Vergangenheit lässt sich bekanntermaßen nicht ändern und nicht immer nachträglich entsprechende Verträge unterzeichnen – mit einem einheitlichen Vertrag lassen sich die Risiken aber für die Zukunft minimieren. Henzler und Schlöder stellen das im Niedersächsischen Landesarchiv verwendete Muster für einen solchen Depositalvertrag vor. Auch, wenn von Seiten des Archivs sicher häufig der Abschluss eines Schenkungsvertrags anzustreben ist, kann so eine rechtssichere Übernahme von Beständen als Depositum erzielt werden – mit Kostenbeteiligung des Depositars.

Andreas Nestl: „Rechtsfragen bei Übergabe und Nutzung nichtstaatlichen Archivguts“ (S. 207-217)

Nestl bearbeitet das gleiche Problemfeld, setzt aber den Fokus anders. Anhand verschiedener Fälle stellt er vor, wie die Eigentumsverhältnisse von Dokumenten aus rechtlicher Sicht sind und wie diese geändert werden können. Ebenso erklärt er, wie Archive mit Beständen umgehen sollten, bei denen eine Klärung oder ggf. nachträgliche Änderung der Eigentumsverhältnisse nicht möglich ist und welche Risiken hieraus entstehen.

Sonst noch

Hinweisen möchte ich auch noch auf den Beitrag von Francesco Gelati und Maren Richter zu „Archivierung von Forschungsrohdaten und deren Zugänglichmachung für die Wissenschaft“ (S. 115-119). Das Thema Forschungsdaten wird hierzulande bislang scheinbar vor allem von (Universitäts-) Bibliotheken bearbeitet, ich erwarte aber, dass das Thema mittelfristig auch für Archive relevanter wird. Sicher gibt es schon einige Projekte, gerade mit statistischen Daten, neben den Archiven wissenschaftlicher Institutionen (Forschungszentren/-gesellschaften, Universitäten und Hochschulen) dürfte das aber auch Bundesarchiv und Landesarchive ein Thema werden. Ich denke dabei vor allem an staatliche, nicht an Forschungsgesellschaften gebudene Institutionen wie das Thünen-Institut oder das RKI auf Bundesebene oder auf Landesebene an Forschungseinrichtungen wie die Forschungsstelle Küste. Der Beitrag ist zwar kurz, gibt aber immerhin einen groben Überblick über das Thema.