Wie üblich verzögert, dafür aber lang und kulturpessimistisch. Auch mal schön.
Den unerfreulichen Teil vorab: Der „gecancelte“ „wissenschaftliche“ Vortrag über Gender bzw. die Frage, ob es ausschließlich zwei Geschlechter gibt oder nicht, an der HU Berlin. Haben vermutlich alle mitbekommen, aber ein paar bemerkenswerte Links will ich trotzdem nochmal zusammenstellen, vor allem zu den Entwicklungen nach der Absage:
- „So stellt sich tatsächlich heraus, dass wenn man eine Vielzahl divergenter Phänomene in zwei Kategorien einteilt am Ende eine Aufteilung mit zwei Kategorien herauskommt“ (Arthur Harris, Facebook, via Claas Gefroi auf Twitter)
- Der Linguist Anatol Stefanowitsch fragt sich, wie ein Vortrag einer Doktorandin, „die keine Publikationen zu diesem Thema hat und die in einer Arbeitsgruppe zu Verhaltenspsychologie arbeitet, in der auch sonst niemand zu diesem Thema publiziert hat.“ in die Lange Nacht der Wissenschaften kommen konnte: „Dafür war die LNDW von vornherein nicht der richtige Ort und der richtige Kontext, und eine Doktorandin, die weder zur Biologie von Geschlecht noch zur Soziologie von Geschlechterrollen noch zur Psychologie von Geschlechtsidentität forscht, ist nicht die richtige Referentin.“ (Twitter-Thread)
- Einige haben sich den Vortrag angesehen und kritisch bewertet, exemplarisch @ReinholdTuexen (Twitter-Thread) und @AdinChelloveck (Twitter-Thread)
Unglücklicherweise ist die Uni nach der Absage dann tatsächlich eingeknickt, nur nicht vor einem „woken Mob“, sondern vor einem konservativen. Wenig überraschend hat sich dann herausgestellt, dass die Dozentin keineswegs politisch neutral und für Diskussionen offen ist, wie man gutgläubig annehmen könnte:
- Robert Wagner: „Es wird Zeit, dass das Augenmerk auf die fragwürdigen Aktivitäten von Marie-Luise #Vollbrecht gelegt wird. Ihre Tweets sind auffallend gehässig und vulgär, teils auch menschenfeindlich. Tatsächlich erinnern sie sogar an rechte Trolle.“ (Twitter-Thread)
- Sie zieht Vergleiche zwischen aktuellen Debatten und der „Zeit der Lobotomie“, was wohl die NS-Zeit meinen dürfte (via Robert Wagner, Twitter)
- Die an den (nachgeholten) Vortrag angeschlossene Diskussion hat sie nicht besucht, weil sie der Meinung ist, der Vortrag sei korrekt gewesen und müsste nicht kontextualisiert werden – sie entzieht sich an dieser Stelle also der Debatte. (via @ElfieTalime, Twitter)
- Wenn das kritisiert wird, wird „eine rote Linie überschritten“ und angedeutet, damit könne oder solle der Wechsel der Kritiker*in nach Berlin verhindert werden (via Dana Mahr, Twitter)
- Bodie A. Ashton liefert einen breiteren Blick aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive auf die Äußerungen Vollbrechts zur Geschichte: „International colleagues, I want you to see exactly what is happening over here—an anatomy of atrocity denial as part of a broader campaign of bigotry.“ (Twitter-Thread)
Allgemein zum medialen und politischen Umgang mit der Debatte noch:
- Dem nachgeholten Vortrag hat die Wissenschaftsministerin (kommt noch…) eine besondere Legitimität zukommen lassen, in dem sie selbst den (wissenschaftlich fragwürdigen) Vortrag besucht. (Tilmann Warnecke, Tagesspiegel)
- Der mediale Umgang ist an vielen Stellen fragwürdig, so werden etwa rechte Framing eines aggresiven Mobs übernommen und gefestigt oder vorherige Äußerungen der Dozentin schlicht nicht betrachtet. (Lydia Meyer, Twitter-Thread) 1307
- Bei der nachgeholten Veranstaltung passiert denn auch wenig überraschend nichts dramatisches, womit sich der Verdacht auftut, dass die HU letztlich einer PR-Aktion aufgesessen ist. (Louis Berger, Twitter-Thread) 1407
- Die Forschungsministerin (ich komme an anderer Stelle auf sie zurück…) ist der Meinung, Transfeindlichkeit „müss[t]en wir alle aushalten,“ weil Wissenschaftsfreiheit und so. (Queer.de) (Hier scheint die Fehlannahme vorzuliegen, Wissenschaftsfreiheit hieße, jeden Scheiß behaupten zu dürfen, ohne dafür kritisiert zu werden. Die Debatte hatten wir bei der Meinungsfreiheit auch schon und auch da war das Unsinn.) 1407
- „Dass eine Uni sich durch eine populistische Medienkampagne bereitwillig zur Bühne for transfeindliche Agitation im biologistischen Gewand anbietet, ist eben kein Teil von Wissenschaftsfreiheit, sondern eine Verkennung der eigenen Verantwortung.“ (@epicLouT, Twitter) 1507
Und die Folgen vom ganzen Desaster?
- Wie ein abgesagter Vortrag transfeindliche Feminist*innen und Rechtsaußen zusammenbringt (Sascha Krahnke, Belltower News)
- Biologin Vollbrecht vollzieht Täter-Opfer-Umkehr (Interview mit Dana Mahr, Katja Thorwarth, Frankfurter Rundschau)
- Angst vor Meinungsfreiheit: „Nach der Absage eines umstrittenen Gendervortrags findet an der Berliner Humboldt-Universität eine Diskussionsrunde statt – leider zum falschen Thema.“ (Ralf Pauli, taz)
Kommen wir zur FDP. Ich habe diese Partei ein Weilchen mit den Ferengi verglichen, aber das tut den Ferengi Unrecht – die haben Rückgrat und ein Wertesystem, wenn das auch nicht meins ist. Beides bezweifle ich bei der FDP, diese Partei ist gefährlich und tendenziell gesellschaftsfeindlich.
- Die Forschungsministerin ist starker Kritik aus der Wissenschaft ausgesetzt, so werden etwa Förderzusagen nicht eingehalten oder Förderprogramme kurzfristig eingestellt. Das trifft unter anderem Forschung zu den Auswirkungen von Corona auf die Gesellschaft oder Rechtsextremismus (Tagesspiegel I, Tagesspiegel II)
- An der Stelle ein friendly reminder, dass Nobelpreisträger schon 2021 vor Christian Lindner als Finanzminister gewarnt haben (Reminder von @wenig_worte auf Twitter, Beitrag beim RND)
Jetzt sollen natürlich wichtige Projekte gefördert werden, nämlich Sachen, die kurzfristig Geld bringen oder was mit antiquierten Antriebstechniken aus dem letzten Jahrtausend zu tun haben.
Zu anderen Dingen:
- Warum die oft zitierten Zahlen von „millionenfachem [Kinder-]Missbrauch,“ die auch gerne als Argument für mehr Überwachung herangezogen werden, problematisch sind, erklärt Sebastian Meineck (Netzpolitik)
- Annika Brockschmidt wirft Friedrich Merz vor, mit seinem Gejammer über Zensur und „Cancel Culture“ Gefahren von rechts zu verharmlosen und rechte Narrative zu bedienen. (Deutschlandfunk, Audio und Twitter-Thread)
- Passend dazu erklärt Frank A. Stengel, warum das Konzept „Cancel Culture“ eigentlich ein „rechtsradikaler Scam“ ist. (Twitter-Thread)
- Wer bei VW arbeitet, wird nicht in seinen Persönlichkeitsrechten beschränkt, wenn Audi seine Mitarbeiter*innen zwingt, zu gendern. Auch, wenn er in der Kommunikation mit Audi entsprechend angesprochen wird. Überraschung! (BR, Süddeutsche)
- Als quasi erste Amtshandlung fordert die Gemeinsame Glücksspielaufsicht der Länder von Providern, Netzsperren einzurichten – auf Anforderung, ohne richterlichen Beschluss. Aus der losen Reihe „warum es eine Scheißidee ist, Netzsperren zuzulassen“. Interessanter Randaspekt: Die Behörde bezieht sich bei der Androhung von Zwangsgeldern auf den Glücksspielstaatsvertrag, der für Provider gar nicht direkt gilt. Glücklicherweise sind die Probvider bislang nicht der Meinung, tätig werden zu müssen, mitunter wird das Schreiben als Erpressung betitelt. Wird in der Verwaltungsgerichtsbarkeit sicher lustig, wenn die GGL versucht, das so durchzusetzen. (Netzpolitik)
- Der Verfassungsschutz fordert derweil bei Auskünften über gespeicherte Daten von den Betroffenen die Zusage, nicht darüber zu sprechen. „Spannende“ Idee. (Golem)
- Mit dem Personalausweis zum Onlineshopping: Wie selbstbestimmt sind “selbstbestimmte Identitäten”? (Lilith Wittmann, Medium)
- Georg Fischer schlägt vor, statt „geistiges Eigentum“ den treffenderen Begriff „Immaterialgüterrecht“ zu verwenden (iRights)
- Ulf Schönert stellt ein Projekt zur Analyse und hoffentlich Verbesserung amtlicher Sprache („Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung“) vor. (Zeit Online, „Offizieller“ Link hinter Paywall)
- Bayerns Gesundheitsminister ist der Meinung, Datenschutz lähme Fortschritt, weshalb die digitale Patientenakte zum Opt-Out umgestellt werden müsste. Ist zwar datenschutzrechtlich überaus bedenklich, aber what could possibly go wrong? (heise) Die passenden „digitalen Identitäten“ (s.o.) sollen angeblich nächstes Jahr funktionieren (und hoffentlich sicher sein). (heise)
- Die Open Knowledge Foundation hat ein neues Projekt gebaut, um Parlamentsdokumente bequem durchsuchen zu können, quasi ein inoffizieller Nachfolger von KleineAnfragen.de: Dokukratie (Frag den Staat, Netzpolitik) In Anbetracht des Trägers steht zu hoffen, dass dieses Projekt langlebiger sein wird.
- Gleichzeitig ist Frag den Staat Mittelpunkt eines Gerichtsverfahrens, in dem das Verwaltungsgericht Berlin die gewagte Feststellung getroffen hat, presserechtliche Auskunftsansprüche wären nur legitim, wenn die Veröffentlichung auf Papier erfolgt. Ja, dieses Jahr. (Frag den Staat, Übermedien)
- John Christensen hat ein Tool gebaut, das die Bilder des Weltraumteleskops Hubble mit denen des neuen James-Webb-Teleskops vergleicht. Die Unterschiede sind schon faszinierend.