Nach meinem Urlaub konnte ich gestern den Tagungsband zum 89. Deutschen Archivtag („RECHTsicher – Archive und ihr rechtlicher Rahmen“) aus der Post holen. (KXP, demnächst garantiert mit Inhaltsverzeichnis und/oder Aufsätzen)
Auch, wenn sicher viele Aufsätze relevant sind (Recht auf Vergessen, DSGVO), ist der Band ziemlich theoretisch – deshalb möchte ich die vier Beiträge hervorheben, die ich besonders interessant finde. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, auch wenn ich über die Abstracts hinaus gehe, genauere Seitenzahlen sind demnach selbst herauszufinden 😉
Felicitas Söhner: „Forschungsethische Anforderungen und Standards bei der Archivierung von Zeitzeugendokumenten“ (S. 137-152)
Während viele Archive Zeitzeugeninterviews in ihren Beständen haben, werden sie doch in (gefühlt?) verhältnismäßig wenigen aktiv gesammelt oder gar erstellt. Söhner stellt als zentale Punkte heraus:
- Informiertes Einverständnis, Freiwlligkeit: Gesprächspartner*innen müssen von Anfang an über den Forschungszweck und die Verarbeitung ihrer Interviews informiert und damit einverstanden sein. Sie müssen jederzeit die Möglichkeit haben, ihr Einverständnis zurückzuziehen – die entstandenen Daten müssen dann vernichtet werden. Dabei weist Söhner auch darauf hin, dass das informierte Einverständnis auf Probleme stoßen kann, wenn die Gesprächspartner*innen die Bedingungen nicht verstehen. Ähnliche Probleme sehe ich bei Menschen, die bspw. eine Demez entwickeln, die aber möglicherweise noch genaue Erinnerungen an bestimmte Ereignisse wiedergeben können.
- Schadensvermeidung: Die Forschenden müssen dafür Sorge tragen, dass ihren Gesprächspartner*innen möglichst keine Schäden entstehen und von Vornherein über mögliche Schäden informieren. Insbesondere werden emotional belastende Forschungssituationen sowie Exkursionen genannt – hier ließe sich überlegen, ob bestimmte Fragen oder Themenkomplexe ausgenommen werden sollten, um Trigger zu vermeiden, die Traumata (wieder) auslösen können.
- Sicherung von Anonymität und Vertraulichkeit: Die Vertraulichkeit der Daten sollte eine Selbstverständlichkeit sein, die Vermeidung oder zumindest Minimierung personenbezogener Informationen hingegen kann unter Umständen problematisch oder unmöglich sein. Eine vollständige Anonymisierung mag bei beispielhaften Erzählungen (z.B. Einwanderungserfahrungen) möglich sein. Ist das Ziel aber, eine bestimmte Lebensgeschichte zu erzählen, wird dies schwierig. Hier muss eine Abwägung zwischen zukünftigen Forschungsinteressen und den Interessen Drittern getroffen werden. (Passt zum Beitrag von Axel Metz, s.u.)
Für die Archive ergeben sich demnach als zentrale Aufgabenfelder:
- Anonymisierung der Daten (soweit möglich und sinnvoll)
- Überlassung der Rechte
- Aufbereitung der Daten (Speicherung, Erfassung, Transkription, …)
- Nutzung
Axel Metz: „Die Rechte der Nachkommen – oder: Schutz jenseits der Schutzfristen und die Konsequenzen für die Benutzung von Archivalien“ (S. 157-166)
Wie ist mit Archivalien umzugehen, deren Nutzung nicht die „klassischen“ Ausschlussgründe (Personenbezogene Daten, Erhaltungszustand und „Wohl des Staates“) entgegenstehen, nämlich schutzwürdige Belange Dritter? Diese Frage ist um so wichtiger, als dass mit neuen technischen Möglichkeiten Daten immer besser verknüpft und Erkenntnisse aus den verknüpften Daten gezogen werden können.
In seinem Beitrag macht Metz klar, dass der klassische Fall – von der Akte eigentlich nicht betroffene Personen, die aber identifizierbar sind (z.B. Kinder in einer Personalakte) seiner Ansicht zu eng gefasst ist. So wirft er etwa die Frage auf, ob die Information über eine vererbbare Krankheit nicht auch eine schutzwürdige Information ist, auch, wenn keine Kinder bekannt sind. Bei der Abwägung des Nutzungsinteresses und dem Schutz der Informationen sollte etwa auch berücksichtigt werden, ob die aus der Akte gewonnene Information publiziert und damit einem breiteren Publikum bekannt gemacht werden soll.
Als Beispiele nennt er den Prozess zur Veröffentlichung der Liste der Euthanasie-Opfer heran, (Bei Archivalia verlinkt und kommentiert) und die Einschätzung des Bayerischen Datenschutzbeauftragten zur Digitalisierung von Personenstandsregistern (Archivalia). Ob die von diesem geforderte Schutzfrist von 140 Jahren für Abstammungsinformationen wünschenswert wäre, sei dahingestellt – bislang scheint es sich hier eher um eine Einzelmeinung zu handeln.
Juliane Henzler, Christian Schlöder: „Der Umgang mit Deposita im Niedersächsischen Landesarchiv – Von den Möglichkeiten eines modularen Musterdepositalvertrages“ (S. 193-205)
Im Bereich der nichtstaatlcihen Bestände gibt es vermutlich in vielen Archiven solche mit ungeklärten Eigentumsverhältnissen – seien es ungefragt zugesendete Dokumente oder ganze Bestände, bei denen eine rechtzeitige Klärung versäumt wurde. Ich wage zu Behaupten, dass die meisten Archive solche „Leichen im Keller“ haben – teils wurden mündliche Absprachen nicht dokumentiert, teils sind Rechtsnachfolgen unklar, manche Familien „ausgestorben“, für einige Bestände gab es nie eine Übergabedokumentation, geschweige denn einen Depositalvertrag.
Die Vergangenheit lässt sich bekanntermaßen nicht ändern und nicht immer nachträglich entsprechende Verträge unterzeichnen – mit einem einheitlichen Vertrag lassen sich die Risiken aber für die Zukunft minimieren. Henzler und Schlöder stellen das im Niedersächsischen Landesarchiv verwendete Muster für einen solchen Depositalvertrag vor. Auch, wenn von Seiten des Archivs sicher häufig der Abschluss eines Schenkungsvertrags anzustreben ist, kann so eine rechtssichere Übernahme von Beständen als Depositum erzielt werden – mit Kostenbeteiligung des Depositars.
Andreas Nestl: „Rechtsfragen bei Übergabe und Nutzung nichtstaatlichen Archivguts“ (S. 207-217)
Nestl bearbeitet das gleiche Problemfeld, setzt aber den Fokus anders. Anhand verschiedener Fälle stellt er vor, wie die Eigentumsverhältnisse von Dokumenten aus rechtlicher Sicht sind und wie diese geändert werden können. Ebenso erklärt er, wie Archive mit Beständen umgehen sollten, bei denen eine Klärung oder ggf. nachträgliche Änderung der Eigentumsverhältnisse nicht möglich ist und welche Risiken hieraus entstehen.
Sonst noch
Hinweisen möchte ich auch noch auf den Beitrag von Francesco Gelati und Maren Richter zu „Archivierung von Forschungsrohdaten und deren Zugänglichmachung für die Wissenschaft“ (S. 115-119). Das Thema Forschungsdaten wird hierzulande bislang scheinbar vor allem von (Universitäts-) Bibliotheken bearbeitet, ich erwarte aber, dass das Thema mittelfristig auch für Archive relevanter wird. Sicher gibt es schon einige Projekte, gerade mit statistischen Daten, neben den Archiven wissenschaftlicher Institutionen (Forschungszentren/-gesellschaften, Universitäten und Hochschulen) dürfte das aber auch Bundesarchiv und Landesarchive ein Thema werden. Ich denke dabei vor allem an staatliche, nicht an Forschungsgesellschaften gebudene Institutionen wie das Thünen-Institut oder das RKI auf Bundesebene oder auf Landesebene an Forschungseinrichtungen wie die Forschungsstelle Küste. Der Beitrag ist zwar kurz, gibt aber immerhin einen groben Überblick über das Thema.